Mitgeschrieben. Ausschnitte aus den Notizen und Tagebüchern von:
Andrea Martens, Ania Bothe, Caro Forkel, Juliane Henrich, Lenny Hanselmann, Noemi Dedring, Timo Domröse und Florian Thalhofer.


[Tag 1, Samstag, 10.5.]

Erster Tag. Die Reise beginnt am Brandenburger Tor als Touristen unter Touristen.
An sich hält das. Sagt Jule. Aber die bei Plus gekaufte Salami fällt wieder und wieder herunter. Der Rucksack fällt. Ein Schlafsack kugelt über die Straße. Eine Wasserflasche springt aus dem am Lenker angebrachten Fahrradkorb. Jedesmal hält die ganze Gruppe an. Wir müssen feststellen, das eine Etappe von 25km doch nicht so ohne ist. 37 km sagt das GPS am Abend. Die Unterkunft liegt ein paar Kilometer vom Mauerweg entfernt. Die Äpfel aus dem Supermarkt sind die wohlschmeckendsten, die ich je gegessen habe. Wir fühlen uns, knapp 20km Luftlinie von zu Hause, wie in einer anderen Welt. Das Wetter ist so schön, dass man Sonnenbrand kriegen wird.
[FLORIAN]


Erste Interviews geführt. Sehr spannend. Einige Menschen hören sich sehr gerne Reden, haben aber interessante und spannende Geschichten erlebt, die sie gern teilen. Man muss nur fragen.
[TIMO]


[Foto: Juliane Henrich]

Schönefeld. Hässlichenfeld müsste es eigentlich heißen, denke ich (nur Autobahn und Supermärkte, neu geteerte Straßen, blaue Schilder, Baumärkte;) doch dann geht es wieder auf kleine Dorfstraßen, kurvige Alleen, und eine Siedlung, die aussieht wie in Schweden (wie in Schafwinkel, wie in Schwandorf) und ein weißes Pferd (Araber), das unter sonnendurchschienenen, aber dunklen Bäumen steht und brr macht, dahinter ein Haus aus Holz, eine alte Frau schaut aus dem Fenster heraus. Dann die Straße, die unser Ziel ist (noch 103 Sekunden, ruft Florian), am Haus steht „Zimmer Frei“ gegen den blauen Himmel, die Tannen, dunkle Tannen, dunkle Jägerzeune, erdig, verwuchert – Spaghetti essen, abends, auf der Couch (die Frau im Supermarkt sagte zu allen: Schöne Pfingsten, wa?). Alle 10 Minuten Flugzeuge im Tiefflug über unseren Köpfen, jaulende Hunde, nicht gemachte Fotos.
[JULE]




[Tag 2, Sonntag, 11.5.]


Gestern Abend haben wir Spaghetti gegessen, uns unterhalten und uns das erste Video angeguckt, das Lenny und ich gedreht haben. Ich glaube, wir waren schon irgendwie ziemlich dreist oder mutig, um es positiv auszudrücken... Wir haben nämlich einfach bei irgendwelchen Leuten geklingelt und nach einem Interview gefragt, das war ein ziemlich komisches Gefühl... Die meisten haben am Anfang immer gesagt, dass sie uns sowieso nicht sagen können, haben dann aber doch relativ viel erzählt.
Hoffentlich klappt heute alles mit den Fahrradtaschen. Auf der Fahrt gestern sind sie mit ja mehrmals in die Speichen gekommen und das war irgendwie immer eine ziemlich blöde Situation, weil ich dann immer so im Mittelpunkt bin. Zum Glück sieht man mich bei den Interviews nicht im Kamerabild, es ist schon schlimm genug, dass man meine Stimme hört.
[NOEMI]


Morgens, 10 Uhr. Ein Flugzeug stört die Ruhe. Flughafen Schönefeld. Die Teilnehmer sitzen verstreut im Garten und führen Tagebuch. Sonne. Ein leichter Wind. Das Geräusch einer Rasensprenganlage. Gänseblümchen auf der Wiese, die Bungalows geräumt, die Fahrräder bepackt. Nächstes Flugzeug. Ein Bus und noch ein Bus in die Gegenrichtung. Sonst kaum Verkehr.

Truthahnweg, Lockenhuhnweg, Putenweg, Kapaunenweg, Kückenweg, Lachshuhnweg, Zwerghuhnweg, Geflügelsteig, Schneehuhnweg, Seidenhuhnweg, Hennensteig, Gockelweg.
[CARO]


Liebes Tagebuch, eigentlich wollten wir um 10 schon losgefahren sein - warum wundert es mich bloß nicht, dass alle noch kramen und Florian wieder der Letzte zu sein scheint?
Unsere reizend verplante Gruppe scheint sich langsam eingependelt zu haben. Ein Gefühl von Vertrautheit kommt auf und man fängt an die Anderen besser einschätzen zu können.
[ANDREA]


Wo Westen und wo Osten ist? Wenn die Sonne jetzt dort ist, dann ist da Westen, das heißt im Süden ist Westen und im Norden Osten (Berliner Geografie). Wenn man durch Teltow fährt, kann man es nicht erkennen. Da ist der Mauerstreifen, das weiß man, aber die beiden Seiten sehen ähnlich aus. Ich versuche es an den Baustilen auszumachen, am Grad des Verfalls, doch dann ist wieder auf der einen Seite ein Altbau, von dem der Putz bröckelt, ich denke: das muss der Westen sein, im Osten wurde alles neu gemacht – strahlend orange Einfamilienhäuser... dann kommen aber dort Hochhäuser, die nicht nach Plattenbau und DDR aussehen, auf „Westseite“ wieder eine Ruine, so heruntergekommen, als stünde sie seit dem Krieg leer...
Rasenflächen, blühende Kastanien. In Schönefeld – und ganz weit weg.
[JULE]


[Foto: Juliane Henrich]

Die ehemalige Mauer ist ein Fahrradweg. Die Jungen in unserer Gruppe sagen es und ich sehe es auch, aber ich sehe auch immer wieder die Bilder in meiner Erinnerung. Wie ich mit meinen Eltern einen Tagesausflug nach Ost-Berlin unternommen habe. Live im Fersehen: die Menschen auf der Mauer. Und jetzt nur noch Fahrradweg. Wie schön Berlin ist, am Rand. Ein Park.
[FLORIAN]


Absurd Strauße zu züchten, auf dem ehemaligen Todesstreifen.
Die dort zurückgebliebenen Scheinwerfer waren heute das einzige, was ich von der Mauer gesehen habe.
Der biertrinkende Mann in der Gartenlaube klärte mich heute auf: " Wenn ich über die Straße gehe, weiß ich genau, wer Ossi und wer Wessi ist!"
[ANDREA]


Es ist so absurd, mit dem Auto sind wir knappe 30 min. von zu Hause entfernt und sind hier wie in einer fremden Welt. Der Bus fährt schon wieder vorbei. Ich glaube ich zieh in sonne Siedlung und Tagebucheinträge schreibe ich dann jeden Tag.
Würde gerne schneller flexibler einatzbereit sein und mehr Interviews führen. Kommen tolle Sachen bei rum. Hätte selber nicht gedacht, dass ich so lockere auf die Leute zu gehen kann.
[TIMO]


Ich habe das Gefühl, bisher waren wir immer sehr müde und „kaputt“ , nachdem wir angekommen waren und haben uns außerdem mehr mit dem essen, trinken und aufs Klo gehen beschäftigt, als mit den Interviews. Aber das ist auch logisch, ich hätte nicht gedacht, das man danach so fertig ist. Andererseits fand ich die Interviews, die wir gemacht haben ziemlich gut und das ist auch sehr wichtig. Ich bin gespannt wie die Filmaufnahmen geworden sind.
[LENNY]


20:13 Steakhaus Cinderella. Alle hungrig - Es scheint, als werden sich gleich alle auf die 50 % reduzierten Grillplatten schmeißen.
Spezialitäten vom Grill.
[ANDREA]


23:28 gegessen, getrunken. Spargel war mittelmäßig, Kartoffeln ungenügend. Trotzdem ein netter Tagesabschluss in Gesellschaft von Sascha- 2 Std. Fahrt für eine Kamera und 2 Fahrradtaschen.
[ANDREA]


24:00 Andrea ist müde, die Knie schmerzen. Es hängen 5 Kilo Zement an den Füßen und der Bauch fängt an zu schmerzen von den Unmengen an Schokolade, die ich grade in mich hinein gestopft habe. [ANDREA]




[Tag 3, Montag, 12.5. Samstag]


Morgens. Dritter Tag. Am Tisch im Hinterhof vom Jugendgästehaus in Lichterfelde. Dieses Jugendgästehaus ist eigentlich das gleiche wie eine Jugendherberge. Und ich mag Jugendherbergen. Ich finde die Betten immer supergemütlich und in jeder Jugendherberge gibt es zum Frühstück „Jugendherbergswurst“ =). Dank der tollen Betten habe ich total gut geschlafen, obwohl die Nacht ruhig noch etwas länger hätte sein können. Wir besprechen ja immer ziemlich viel, obwohl ich da meistens nicht so viel sage. Das liegt daran, dass ich ja sowieso nicht viel rede und oft auch gar nicht so genau weiß, wie ich dazu stehe. Wie gesagt, weiß ich nicht so genau, was ich davon halte, weil mir einerseits das Interviewen totalen Spaß macht, ich aber andererseits auch irgendwann irgendwo ankommen möchte.
[NOEMI]


Es war einmal ein halbes Land, das hatte grosse Angst. Es baute eine Mauer auf, um eine halbe Stadt.
Es war einmal ein großes halbes Land, das frass ein kleines auf.
[FLORIAN]


Sprechen heute viel über Ost und West, Mauerfall, Wiedervereinigung. War mir bis jetzt auch nicht klar, dass das zwei Paar Schuhe sind.
[CARO]


Wir radeln in der Sonne durch den Wald und die Mauer ist nicht mehr da. Sie ist weg. Fast spurlos verschwunden, hat sich in einen Fahhradweg verwandelt. Eine Fahrradautobahn. Pfingstmontag und die Ausflügler stauen sich. Da wo die Mauer war. Es gibt noch Geschichten. Man kann sie hören, wenn man die Menschen auf den Straßen fragt. Sie fließen förmlich aus ihnen heraus. Manchmal zusammen mit ein paar Tränen. Doch nur die älteren erzählen und ich merke, dass ich nicht mehr zu den jungen gehöre. Auch ich habe noch ein paar persönlich erlebte Geschichten zu erzählen. Für die jungen in unserer Gruppe ist da nur mehr der Fahrradweg und ein paar Daten, in der Schule gelernt. Die älteren haben die Mauer in den Köpfen. Als Vorurteil oder als Mahnmal. Ich gehöre zu den letzten der alten, mehr als zu den ersten der jungen. Wir sitzen unter einem Baum, wir diskutieren. Der Unterschied der Systeme, die soziale Marktwirtschaft, das Geld, die Anerkennung. Ein älterer Herr bleibt stehen, mit zwei kleinen Hunden, Hermann und Julchen. Das nächste Interview. Heute der erste Tag, an dem das Thema wichtiger ist als die Gruppe oder der Muskelkater.
[FLORIAN]


Hund pinkelt Florians Kameratasche an.
[CARO]


[Foto: Andrea Martens]


Die Lampen am Todesstreifen sind nicht da, weil es eine Gedenkstätte ist, sondern weil die „Investoren“ das Geld nicht ausgeben wollen, sie entfernen zu lassen.
[JULE]


Die Interviews werden intensiver. Wir lassen uns mehr Zeit. Versuchen eigene Fragen zu klären die uns anfangen zu beschäftigen. Wir reden immer länger über unsere eigenen Gedanken. Manchmal entschwindet mir die Tatsache, dass fast alle außer Florian und Timo entweder noch gar nicht auf der Welt waren, als die Mauer fiel oder noch sehr klein waren. Es ist schwer für mich zu begreifen, dass Andrea ‚wenig Mauer’ spürt beim Fahrradfahren. Bei mir kommen alte Bilder wieder hoch, alte bedrohliche Erinnerungen an die Mauer und die Grenzanlagen. Es waren eher die gespenstischen Grenzanlagen die mich eingeengt habe, die meinen Brustkorb verengt haben, wenn ich rübergeschaut habe.
[ANIA]


Non Stop Writing am Gribnitzsee – steh da wirklich nicht drauf, non Stopp schreiben, aber vielleicht erlebe ich ja noch das unerwartete – die Erfahrung. Mal nicht so negativ hier. Was brennt mir denn auf der Seele? Gut, dass wir Fahrrad fahren, sonst würds arg zäh. Brauche doch meine Privatsphäre ohne mich andauern absprechen und diskutieren zu müssen. Wann und wo ich wie was denke und fühle. Mmhh wollen wir weiter oder doch noch draufrum diskutieren??? Vielleicht sollte ich mal wieder Joga machen oder Kopfstand?!? Manchmal ist sogar mehr weniger, oder weniger mehr oder oder oder. Ich brech hier mal ab.
[TIMO]


Wunderschöne Strecke, durch Wald, Moor, am See entlang, vorbei an den Villen von Babelsberg. Krasser Kontrast irgendwie zu den ganzen Geschichten von Existenzängsten, Grundstückverlusten und Sehnsüchten, die wir zu hören kriegen.
[CARO]


Ein älteres Paar mit ganz weißem Haar will nichts vor der Kamera sagen, aber sie sind froh, dass die Mauer gefallen ist und gingen schon immer dort spazieren.
[JULE]


Und der Gedanke, die ganze Zeit in Berlin zu sein, ist zu abgefahren, weil mein Berlin sich so weit weg anfühlt. Die Mauer kann ich mir auch so schwer vorstellen, ich genieße einfach Berlin von einer so coolen Seite.
[CARO]


Interview im Wirtshaus Moorlake. Montag Abend, See, die Sonne sinkt langsam hinter den Bäumen am Wasser. Gediegene Abendstimmung. Gedämpftes Gebrabbel der Gäste, Geschirrklappern und Küchengeräusche im Hintergrund. Weiß-gelb karierte Tischdecken, grüne Plastikstühle. Vater und Sohn der Gaststätte Moorlake sitzen uns gegenüber. Kellner in grünen Westen über weißen Hemden servieren auf dem Platz.
[CARO]


[Foto: Juliane Henrich]

Einmal sollten wir wild gezeltet haben, war die Devise. Nur wo? Das Villenvirtel in Potsdam? Zu schick und neben den Villen Schilder, die erklären, dass der öffentliche Fahrradweg am Ufer Privatweg sei. Der Glienicker Park ist Naturschutzgebiet. Timo deutet auf eine Landzunge in einer malerischen Bucht. Aussichtslos. "Lass uns da vorne im Lokal nachfragen, ob sie was dagegen haben." Keine Chance, denke ich. Die "Moorlake" ist eines der bekanntesten Ausflugslokale in Berlin. Timo zieht los und kommt ein paar Minuten später mit erhobenem Daumen zurück. Man hätte nichts dagegen aber die Wasserschutzpolizei würde uns vertreiben. Wir sollen unsere Zelte hinter dem Restaurant aufstellen. Es gibt noch etwas Sonne. Und so übernachten wir in dieser Nacht mitten im Glienicker Park im Garten eines schicken Restaurants. Interview mit den Besitzern inclusive. Wir speisen festlich zu Abend.
Der Morgen ist kalt, das erste mal seit wir unterwegs sind, ist der Himmel bedeckt. Zähneputzen auf der Toilette des Restaurants "Moorlake". Im großen Eichensaal erzählt der Hausmeister wie er in der DDR im Knast war und von der Bundesrepublik freigekauft wurde.
[FLORIAN]




[Tag 4, Dienstag, 13.5.]


Dann saß ich ganz alleine in diesem großen Jägersaal. Mit Blick auf die Havel, Kaffe genossen – wunderschön. Ein Magischer Moment. Aus der Kücke schallt ganz leise Phill Collins. Den fand ich schon immer Kacke aber jetzt – jetzt kauf ich mir alle Platten! Nach einiger Zeit kam der Hausmeister zu mir und ich habe angefangen, ihn zur Mauer zu interviewen.
[TIMO]


Die Nacht war eigentlich ganz in Ordnung und ich habe heute schon zwei Tassen Kaffee aus der Kaffeemaschine des Restaurants mit Kaffeesahne getrunken, so viel trinke ich eigentlich nie davon und auch nie mit Kaffeesahne.
[NOEMI]


Maikäferweg, Ameisenweg, Glühwürmchenweg, Hirschkäferweg, Goldkäferweg, Bienenweg, Junikäferweg, Wespenweg, Zirpenweg, Feuerkäferweg, Seejungfernweg, Heimchenweg.
[CARO]


Die positivste Entwicklung des Tages sind die immer wieder aufkommenden Gespräche unter uns, die mir mehr und mehr Geschichte vermitteln. Die anfänglich vermutete allgemeine Unwissenheit stimmt nicht, und gemeinsam fangen wir an, Wissen und Geschichte auszutauschen. Zudem besucht uns heute Claudia, die einzige Ostgöre unter uns. So kann sie erzählen, worüber auch sie vorher nicht viel reflektiert hat. In ihrer Familie war Mauer nie viel Thema, in meiner auch nicht. Kann es sein, dass dieses 40 jährige Kapitel Deutschlands ein bisschen untergetaucht ist? Versteckt? Einfach noch zu neu? Zwanzig Jahre sollten doch eigentlich genug Zeit gewesen sein, die Mauer in Geschichtsbücher zu schreiben.
[ANDREA]


Ich weiß wenig über die Vergangenheit meiner Großeltern, was sie in Sachen Ost-West erlebt haben und überhaupt. Wollte es bisher auch nicht wissen, aber jetzt schon. Vielleicht habe ich auf dieser Reise die Ahnung von dem Gespür bekommen, das ich brauche, um mich auf ihre Erzählungen einzulassen, ohne gleich genervt zu sein. Zumindest wünsche ich mir das.
[CARO]


Der Tag war geprägt von gefühltem Sehr- Wenig -Fahren und (wie immer) guter Stimmung. Interviews wurden geführt auf der Fährfahrt und auf einem Gartenweg somewhere in Spandau. Beide Frauen erschienen mir sympathisch, jedoch hätte ich mich lieber mit ihnen unterhalten, anstatt sie zu interviewen. Ein Mikro & eine Kamera hemmen nicht nur den Interviewten, sondern auch den Interviewenden.
Am Abend konnten wir Material sichten. Für mich eher ernüchternd - sich selbst im Fernsehen zu sehen, macht weder Spaß noch selbstbewusst.
[ANDREA]


P.S.: In unserer heutigen Unterkunft gibt es gelbes und blaues Klopapier.
[CARO]




[Tag 5, Mittwoch, 14.5.]


Wir sitzen im Biergarten, das Steak ist bestellt. Ich möchte einen Garten, ein Reihenhaus, eine Familie, ein Auto. Grillen, Rasen mähen, Auto waschen. Die Welt ist schön, ist friedvoll, ist Glück und wir durch den Sommer auf Fahhrädern. Die Mauer, über die wir so viel reden ist so weit weg in der Vergangenheit, ist fast unsichtbar, es finden sich fast keine Spuren. Die Sonne auf der Haut. Kinder rufen, Vögel zwitschern. Das Leid an der Mauer ist Folklore. Die welt dreht sich weiter und die Oma sagte dass das mit der Mauer gar nichts war, verglichen mit dem Krieg. Eiskaffee wird gebracht, er steht vor uns in der Sonne, das Eis schmilzt, wir schreiben. Die Welt dreht sich weiter, diue Bäume wachsen, überwuchern den Weg auf dem Grenzsoldaten patrollierten, oder das, von dem wir denken, dass es der Weg war.
[FLORIAN]


[Foto: Juliane Henrich]


Vorhin dachte ich, endlich die Mauer in Form des parallel zu uns laufenden Sandweges entlarvt zu haben. Florian und ich waren uns sicher, das muss der Sandstreifen auf ehemaliger Ostseite gewesen sein. Nur ein Sandweg für Pferde, wie sich herausstellt. Oder auch nicht herausstellt, sondern wir uns anhand der unverständlichen Mauerkarten am Wegesrand zusammenreimen.
Wo war denn nun diese Mauer?
[ANDREA]


Während der Fahrt habe ich manchmal das Gefühl richtig schnell fahren zu wollen, weil wir teilweise ganz schön lahm fahren. Wenn ich dann genügend Abstand habe, filme ich sie, wie sie ankommen.
[LENNY]


Das meiste, was ich sehe, löst Erinnerungen aus – Koblenz, Skandinavien, Frankreich, England... wird später Erinnerungen auslösen an Berlin Wannsee, Frohnau, Staaken..
An der Moorlake war der See so schön, dass ich dachte man müsste nie wieder in Urlaub fahren.
[JULE]


Die Mauer ist nicht mehr so präsent, weil es immer durch den Wald geht und weil ich hier keine inneren Bilder von der Mauerzeit habe. In der Stadt und in Rudow oder Lichterfelde hatte ich die Mauer damals immer vor Augen. Sie ist wie ein Foto in mir abgespeichert. Jetzt im Norden von Berlin entschwindet sie mir genauso wie Andrea und den Anderen.
[ANIA]


[Foto: Juliane Henrich]

An einer Stelle haben Jugendliche eine BMX-Strecke aufgebaut und wir haben die Gelegenheit genutzt um auch noch mit ein paar jüngeren Leuten zu reden.
Es war irgendwie komisch mit Leuten in meinem Alter über so ein Thema zu reden, weil sie mich auch anders wahrnehmen, als es ältere Menschen machen.
Aber eigentlich waren sie auch ganz nett.
[NOEMI]


Ich fahre meistens vorne, keine Ahnung, warum. Vielleicht sind die anderen einfach zu langsam. Vorhin sind Lenni und ich total schnell vorgefahren und haben uns auf einen Hochsitz gestellt und die anderen beim Vorbeifahren gefilmt. Trotzdem habe ich die anderen danach alle wieder überholt. Ich finde das irgendwie komisch,weil mein Fahrrad ja nicht so wirklich gut ist und ich rase ja auch nicht die ganze Zeit oder so. Ich fahre eigentlich immer relativ entspannt vorne und trotzdem wird der Abstand zu den anderen total groß.
Meistens fahre ich freihändig, also nicht meistens, es kommt immer auf den Weg an. Aber ich fahre schon öfter mal freihändig, weil es mir einfach totalen Spaß und ich kann das ja auch gut, ich kann auch um Kurven fahren und so. Aber den anderen ist das anscheinend sowieso egal...
[NOEMI]


Immernoch fragen wir uns immer wieder, wo denn nun die Mauer war, es ist schon so verschwommen, verwischt. In Berlin fängt heute die UDK wieder an, doch das ist ganz woanders. Je länger ich über die Teilung nachdenke, desto absurder erscheint sie mir. (Brücken in deren Mitte ein Mauerstück stand)...
[JULE]


Wir zelten hier im buddhistischen Garten vom buddhistischen Haus in Frohnau, und irgendwo im Dickicht tummelt sich eine buddhistische Wildsau mit ihren Frischlingen. Aber alles ganz peacy. Sagt Detlef. Detlef wohnt hier, hat mit uns gekocht und uns über den Umgang mit dem Schwein aufgeklärt.
[CARO]


[Foto: Juliane Henrich]

Im Zelt neben Buddha. Das größte Thema des Abends: Wildschweinangst. Eine Mutter mit 15 Kids im Wald des Hauses - ob sie uns besuchen kommt? Das Eintreten in dieses Haus war zunächst schön, beflügelnd schon fast. Hunger und Ungewissheit bezüglich Verhaltensweisen machten dann ungeduldig und Buddhist Detlef, der schon "viele Monde kommen und gehen" sah, verändert mein Wohlbefinden im Gotteshaus zunehmend.
Ich würd so gerne Madame Wildschwein mal hören.
[ANDERA]


Abends saßen wir im Teelichtschein am Zelt und haben auf die Wildschweine gewartet. Und sie kam, grunzte und jagte uns einen riesigen Schrecken ein.
[TIMO]




[Tag 6, Donnerstag, 15.5.]


Wildschweine. Die anderen waren alle ein bisschen ängstlich und ich habe immer so ein bisschen einen auf cool gemacht. Aber dann saßen wir abends so zwischen halb elf und elf zusammen vor den Zelten. Die Hälfte von uns war irgendwie gerade auf der Toilette, als plötzlich hinter mit ein unglaublich lautes Rascheln und Grunzen ertönte. Ich bin erst mal in eine Art „Schockstarre“ verfallen, die anderen sind aufgesprungen. Ganz plötzlich hatte ich dann doch ziemliche Angst, obwohl ich davor immer so getan hatte, als ob ich das Wort Angst überhaupt nicht kennen würde. Jedenfalls im Bezug auf Wildschweine.
Na ja und dann sind wir halt ins Bett gegangen. Geschlafen habe ich allerdings nicht so gut... Eben gab es ein sehr gutes Frühstück und gleich machen wir uns wieder auf den Weg.
[NOEMI]


Ich fühle mich so aufgeräumt. Die Luft ist frisch, die Bäume grün, klarer Himmel. Das Zelt war ein Haus für eine Nacht. Gestern Abend kreuzte eine Wildsau auf und jagte uns einen wahnsinnigen Schrecken ein (sie grunzte aber nur und zog wieder von dannen).
Heute ist der letzte Tag. Wir waren so weit weg.
Hier im Garten eine Stupa aus Plastikkisten gebastelt. Darunter stehen 6 ausgelagerte Autositze („weil es dort trocken ist.“)
Der Mann am Frühstückstisch, ein Sri-Lankaner sagte, der Mensch müsse gute Beziehungen zu Tieren aufbauen, damit es das Herz weichkocht. Sonst ist es nur "ich weiß das, ich weiß das, aber keine Liebe."
[JULE]


Wir sind jetzt im buddhistischen Haus und fahren nach diesem Tagebucheintrag in Richtung Brandenburger Tor. Kaffee gestern war alles andere als lecker. Kurzbeschreibung: lauwarm, kaum Eis, zu klein, zu teuer.

Jedenfalls sind wir dann auch nicht mehr baden gegangen, weil alle irgendwie weiter wollten Dann haben wir einen ehemaligen Wachturm entdeckt, indem eine Ausstellung war, die wir uns angeguckt haben. Dann haben wir Interviews mit uns selbst gemacht.
[LENNY]


Interview mit Sarah Jasinszczak: Sommer in der Stadt, Strandbar. Chillige Musik und Kettensäge im Hintergrund, der Geruch von Räucherstäbchen. Ein frischer Wind.
Sieben leere Gläser Eiskaffee, von weitem hört man den Verkehr.
Überall hängen und stehen Pflanzen, viele viele Blumen, nebenan der Mauerpark und Musikanten.
[CARO]


Sarah (so hieß die Interview- Partnerin)... Ich fand sie sehr interressant und als ich sie das erste mal zu Gesicht bekam war das der persönlich entgültige Beweis, dass man Ossis und Wessis nicht am äußerlichen erkennen kann, weil ich fest davon überzeugt war sie wäre ein „Wessi“, was nicht der Fall war.

Der Eiscafé war wieder nicht gut, aber besser als der davor. Ich habe schrecklich dreckige Fingernägel und freue mich immer mehr auf eine heiße Badewanne heute Abend.
[LENNY]


[Foto: Juliane Henrich]

Eben noch ein Gespräch mit einer Frau, die an der Mauer geboren wurde (Oderberger Straße) und jetzt wieder dort lebt. Sie hat viel und ruhig erzählt. Es war ein ganz merkwürdig sinnmachendes Gefühl, ihr zuzuhören, weil sie das wirklich alles gelebt hatte, sie lief als Kind Rollschuh neben den Grenzsoldaten, sie war im Widerstand, ihr Freund wurde verhaftet, weil sie ein Plakat gemalt hatten, auf dem stand „Freiheit ist immer die Freiheit des anders Denkenden“.
[JULE]


Wir suchten und suchten, wir fuhren über 155 km schwer beladen, wir ließen viel Schweiß, ich habe sie nicht gefunden, die Mauer ist weg. Für mich hat es sie fast nie gegeben, sie ist Geschichte. Bis dies allgemein gültig wird, wird noch viel Zeit vergehen.
Man sagt das wirklche Überwinden einer Beziehung braucht ebenso lange, wie sie angedauert hat. Das wären noch ca. 20 Jahre.
[ANDREA]


Man lässt die Leute reden und ist froh, wenn sie etwas zu erzählen haben. Wenn sie sich öffnen und reden ohne Nachfrage. Welche eine schöne Form der Recherche. Wir sind einfach nur die Zuhörer, die respektvollen Zuhörer.
[ANIA]


Waren ein cooles Team, hatten ne coole Zeit, cooles Wetter, schöne Erlebnisse Erlebnisse und viele Flecken von Berlin, wo ich gerne ein zweites Mal hin möchte. Punktum, das wars, mehr habe ich erstmal nicht zu sagen. Adios amigos.
[CARO]


Sind zwar bis auf Lenni nur Erwachsene, aber sehr coole, wirklich coole Erwachsene!

[Foto: Florian Thalhofer]

Florian, unser Leiter und der Mann mit dem GPS...
Jule, die wunderschöne Fotos macht.
Lenni, der für 13 schon sehr reif ist.
Ania, die manchmal ein bisschen zu viel nachdenkt.
Andrea, die Gangsterslang redet und das furchtbar schlimm findet, auch wenn es das gar nicht ist.
Caro, unsere Managerin und Organisatorin.
Und Timo, mit den coolen T-Shirts, der coolen Frisur und den permanenten Witzen...
[NOEMI]